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Kisch – ein Jahrhundert-Journalist

Nichts als die Wahrheit

Kisch – Briefe an Jarmila

Vor 70 Jahren – Landung in Australien

Vorhang auf für Egon Erwin Kisch

Verwandte und Bekannte

Artikel – Kommentare – Reportagen

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Kischs letztes Notizbuch: Eingetragen sind Reportagethemen für ein Buch über die befreite Tschechoslowakei, das er nach der Rückkehr in die Heimat plante.
Foto: Klaus Haupt

 

 

Kisch hat zwar keine in sich geschlossene Theorie der Reportage geschaffen – wenngleich er auch an der Journalistischen Fakultät der Universität Charkow gelehrt hat –, aber Jahrzehntelang hat er sich mit Fragen von Theorie und Praxis der Reportage beschäftigt. Bereits 1918 verfasste er die erste, wenn man so will, »Kleine Theorie« der Reportage. Da ging es ihm in seinem Beitrag zum »Wesen des Reporters« zunächst einmal um die eigene Erfahrung, das eigene In-Augenschein-Nehmen des Reporters, also um das empirische Prinzip. Kisch stellt fest: »Ohne zu reportieren, das heißt, ohne das meritorische und (für die Behandlung des Stoffes) wichtige Material herbeizuschaffen, gibt es keine geistige Behandlung des Themas.« Als weiteren Grundsatz nannte er die »dokumentarische Wahrheit«. Kischs Werk enthält vielfältige Erkenntnisse und praktische Hinweise für jeden, der ein guter Reporter werden möchte. Die hier gebotenen Kisch-Antworten sind nur eine geringe Auswahl aus seinen in den Gesammelten Werken enthaltenen Beiträgen zur Reportage-Theorie.
Die Quellenangaben Band/Seite basieren auf: Egon Erwin Kisch - Gesammelte Werke, Aufbau-Verlag Berlin, 1960/1985

Nichts als die Wahrheit
Der »Rasende Reporter« Egon Erwin Kisch im Interview

In der Berliner Mediengalerie wird vom 31. März bis zum 16. Mai 2008 eine Ausstellung gezeigt, die Leben und Werk von Egon Erwin Kisch würdigt. Anlaß ist der 60. Todestag des »Rasenden Reporters« am 31. März. Ergänzend zur Ausstellung finden Lesungen und Diskussionen statt. Veranstalter sind der ver.di-Landesverband Berlin-Brandenburg, die Deutsche Journalisten Union (dju) und der Verband Deutscher Schriftsteller (VS). Der Berliner Journalist Klaus Haupt, Kisch-Forscher und ver.di-Mitglied, hat den Mann aus Prag, der die Reportage zu einem literarischen Genre gemacht hat, zur Königsdisziplin der Schreiber befragt.

Herr Kisch, was sagt der »Rasende Reporter« über die Wurzeln der Reportage mit sozialem Engagement, über Ihre Vorläufer?
Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, an Plinius den Jüngeren, der dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht über das Erdbeben von Pompeji lieferte, an Helfrich Peter Sturz, den Freund Lessings, an George Forster, den wegen seiner Zuneigung zur Französischen Revolution verfemten deutschen Klassiker, an Charles Dickens, der eindringlich auf das Londoner Elend hinwies, an Henry M. Stanley, der von seiner Zeitung ausgesandt wurde, um den verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und einen ganzen Erdteil erforschte, vor allem aber an Emile Zola, der die Probleme der neuen Zeit an Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das zeigte, woran sie täglich ahnungslos vorübergingen oder ahnungslos beteiligt waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen, das Warenhaus, die Waschküche, die Börse, die Budike, die Kohlengrube, den Acker, die Fabrik und den Krieg, wie er wirklich ist.
(IX/211)

Wie verhält es sich mit der Künstlerschaft bei der Arbeit des Reporters?
Bei aller Künstlerschaft muß er Wahrheit, nichts als Wahrheit geben, denn der Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit ist es, was die Arbeit des Reporters so gefährlich macht, gefährlich nicht nur für die Nutznießer der Welt, sondern auch für ihn selbst, gefährlicher als die Arbeit des Dichters, der keine Desavouierung und kein Dementi zu fürchten braucht.
Es ist schwer, die Wahrheit präzis hinzustellen, ohne Schwung und Form zu verlieren; Reportage heißt Sichtbarmachung der Arbeit und der Lebensweise – das sind oft spröde, graue Modelle in den heutigen Zeitläuften.
Wahrheit ist das edelste Rohmaterial der Kunst, Präzision ihre beste Behandlungsweise.
(IX/397)

Können Sie weitere Kriterien für eine gute Reportage benennen?
Eine Reportage darf keine Spur von Eintönigkeit aufweisen. Ein Kriterium des Künstlers unter den Reportern ist, meine ich, der Humor. Warum sollte man sich dessen schämen.
(X/497)

Haben Sie einen Tip für einen guten Anfang?
Der erste Satz soll eine Sentenz enthalten.
(Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila – vom 14. November 1936 aus Versailles)

Und wie findet der Reporter seine Stoffe?
Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Versuche, die er anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von der Lüge unermeßlich überschwemmt ist, wenn er in einer Welt, die sich vergessen will und darum bloß auf Unwahrheit ausgeht, die Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.
Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in der man lebt!
(Der rasende Reporter. Vorwort der Erstausgabe 1924)

Schön und gut. Aber gibt es nicht besondere Brennpunkte, spezielle Kontakte, die für den Reporter bei seinen Recherchen wichtig sind?
Ein Reporter muß mit allen Kreisen der Gesellschaft Fühlung haben, von der allerhöchsten bis zu den allerniedrigsten. Trotzdem will ich nicht behaupten, daß ich mit manchen merkwürdigen Gestalten der Boheme und der Verbrecherwelt in der Zeit meiner Jugend nur aus journalistischem Ehrgeiz befreundet war. Viele liebte ich als prachtvolle Menschen, obwohl mancher nur zu mir kam oder mich anrief, um eine Protektion bei der Polizei zu erbitten, um bei mir zu essen oder zu schlafen – zur geringen Freude meiner Mutter.
(X/215)

Ihnen wurde gelegentlich »empfohlen«, Daten und Namen einfach zu ignorieren und ihr Werk nicht als Reportage, sondern als Novelle zu deklarieren, so dass man Sie dann literarisch beurteilen würde, als Mann von Phantasie?
Bedarf die Gestaltung der Wahrheit keine Phantasie? Es ist wahr, die Phantasie darf sich hier nicht entfalten, wie sie lustig ist, nur der schmale Steg zwischen Tatsache und Tatsache ist zum Tanz freigegeben.
(VII/292)

Sie haben den Begriff der »logischen Phantasie« eingeführt, weil ein guter Reporter allein mit den ermittelten Tatsachen nicht auskomme?
Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, er bedarf aber auch eines Fernrohres: der »logischen Phantasie«. Denn niemals bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes, aus den aufgeschnappten Äußerungen der Beteiligten und Zeugen und aus den ihm dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage. Er muß die Problematik des Vorfalles, die Übergänge zu den Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten, daß die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal ist nun, daß diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich der Reporter von jedem anderen seiner Gattung, hier zeigt sich der Grad seiner Begabung.
(VIII/206)

»Logische Phantasie« verlangt eine bestimmte Begabung, doch was nützt sie, wenn es in manchen Redaktionen oder bei gewissen Themen festgefügte Forderungen gibt und der »freien Meinung« Grenzen gesetzt sind?
Heute werden Begabungen unter der selbstverständlichen Bedingung gekauft, daß sie jene Meinungen zu vertreten haben, auf welche sich der Herausgeber der Zeitung, ihre einstigen und gegenwärtigen Redakteure in allen Fragen festgelegt haben. Aus diesem Schienenstrang kann niemand heraus. Also ist schon dieser Menschenkauf unsittlich.
(VIII/216)

Und da gibt es keinen Ausweg?
Die Gegner des gegenwärtigen Pressezustandes wenden sich immer bloß gegen die Zeitung als Werkzeug der Kapitalvermehrung. Das ist sie, und da die heutige Gesellschaftsform eine amorphe Masse aus Utilitarismus, Sensationslüsternheit, Interessiertheit, Kulissenkriecherei und Geilheit ist, so können der Journalist und seine Zeitung keine erfreulichere Erscheinung sein, als es sonst jemand in der Gesellschaft ist. Aber sie sind Symptome, und Organismen werden nicht gerettet, indem man Symptome beseitigt. Mit der Kapitalisierung der Presse muß sich jeder abfinden, der sich mit der Kapitalisierung der Zeit abgefunden hat. Aber auch im Rahmen des Kapitalismus ist die Reform der Presse möglich.
(VIII/216)

Was hat Sie an der Arbeit des von Ihnen 1923 heraus gegebenen Buches »Klassischer Journalismus« fasziniert, in dem 100 Meisterwerke der Zeitung aus rund 2000 Jahren versammelt sind?
Die Geschichte gibt Auskunft... Sie ist es, die zu jedem Plädoyer ihren Urteilsspruch gefügt hat. Und das sollte eine Anthologie des klassischen Journalismus zu einem Lehrbuch der Nation machen. Zu lernen ist, daß der Geistigkeit nur durch Geistigkeit zu begegnen ist, durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine Lüge zu lernen ist, daß nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache. Und daß es nichts hilft, wenn man zu Lande unbesiegt ist und zu Wasser unbesiegt ist, sondern daß man den Krieg der Menschheit nur verlieren kann, wenn man im Geiste besiegt wird.
(Klassischer Journalismus – Die Meisterwerke der Zeitung / Vorwort)

Durch ihr gesamtes Werk zieht sich wie ein roter Faden die Forderung, für die Wahrheit zu streiten...
Ich glaube, einmal werden die Menschen über die Welt nichts als die Wahrheit lesen wollen.
(X/438)

Veröffentlicht in: Menschen Machen Medien – MMM, Heft 03/2008

 

 
 

 

© 2008 Klaus Haupt. All rights reserved.

 

 

 

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