|
Kisch hat zwar keine in sich geschlossene Theorie
der Reportage geschaffen – wenngleich er auch an der
Journalistischen Fakultät der Universität Charkow gelehrt hat –,
aber Jahrzehntelang hat er sich mit Fragen von Theorie und Praxis
der Reportage beschäftigt. Bereits 1918 verfasste er die erste, wenn
man so will, »Kleine Theorie« der Reportage. Da ging es ihm in
seinem Beitrag zum »Wesen des Reporters« zunächst einmal um die
eigene Erfahrung, das eigene In-Augenschein-Nehmen des Reporters,
also um das empirische Prinzip. Kisch stellt fest: »Ohne zu
reportieren, das heißt, ohne das meritorische und (für die
Behandlung des Stoffes) wichtige Material herbeizuschaffen, gibt es
keine geistige Behandlung des Themas.« Als weiteren Grundsatz nannte
er die »dokumentarische Wahrheit«. Kischs Werk enthält vielfältige
Erkenntnisse und praktische Hinweise für jeden, der ein guter
Reporter werden möchte. Die hier gebotenen Kisch-Antworten sind nur
eine geringe Auswahl aus seinen in den Gesammelten Werken
enthaltenen Beiträgen zur Reportage-Theorie.
Die Quellenangaben Band/Seite basieren auf: Egon Erwin Kisch -
Gesammelte Werke, Aufbau-Verlag Berlin, 1960/1985
Nichts als die Wahrheit
Der »Rasende Reporter« Egon Erwin Kisch im Interview
In der Berliner Mediengalerie wird vom 31. März bis zum 16. Mai 2008
eine Ausstellung gezeigt, die Leben und Werk von Egon Erwin Kisch
würdigt. Anlaß ist der 60. Todestag des »Rasenden Reporters« am 31.
März. Ergänzend zur Ausstellung finden Lesungen und Diskussionen
statt. Veranstalter sind der ver.di-Landesverband
Berlin-Brandenburg, die Deutsche Journalisten Union (dju) und der
Verband Deutscher Schriftsteller (VS). Der Berliner Journalist Klaus
Haupt, Kisch-Forscher und ver.di-Mitglied, hat den Mann aus Prag,
der die Reportage zu einem literarischen Genre gemacht hat, zur
Königsdisziplin der Schreiber befragt.
Herr Kisch, was sagt der »Rasende Reporter« über die Wurzeln der
Reportage mit sozialem Engagement, über Ihre Vorläufer?
Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, an Plinius den
Jüngeren, der dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht
über das Erdbeben von Pompeji lieferte, an Helfrich Peter Sturz, den
Freund Lessings, an George Forster, den wegen seiner Zuneigung zur
Französischen Revolution verfemten deutschen Klassiker, an Charles
Dickens, der eindringlich auf das Londoner Elend hinwies, an Henry
M. Stanley, der von seiner Zeitung ausgesandt wurde, um den
verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und einen ganzen
Erdteil erforschte, vor allem aber an Emile Zola, der die Probleme
der neuen Zeit an Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das
zeigte, woran sie täglich ahnungslos vorübergingen oder ahnungslos
beteiligt waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen,
das Warenhaus, die Waschküche, die Börse, die Budike, die
Kohlengrube, den Acker, die Fabrik und den Krieg, wie er wirklich
ist.
(IX/211)
Wie verhält es sich mit der Künstlerschaft bei der Arbeit des
Reporters?
Bei aller Künstlerschaft muß er Wahrheit, nichts als Wahrheit geben,
denn der Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit ist
es, was die Arbeit des Reporters so gefährlich macht, gefährlich
nicht nur für die Nutznießer der Welt, sondern auch für ihn selbst,
gefährlicher als die Arbeit des Dichters, der keine Desavouierung
und kein Dementi zu fürchten braucht.
Es ist schwer, die Wahrheit präzis hinzustellen, ohne Schwung und
Form zu verlieren; Reportage heißt Sichtbarmachung der Arbeit und
der Lebensweise – das sind oft spröde, graue Modelle in den heutigen
Zeitläuften.
Wahrheit ist das edelste Rohmaterial der Kunst, Präzision ihre beste
Behandlungsweise.
(IX/397)
Können Sie weitere Kriterien für eine gute Reportage benennen?
Eine Reportage darf keine Spur von Eintönigkeit aufweisen. Ein
Kriterium des Künstlers unter den Reportern ist, meine ich, der
Humor. Warum sollte man sich dessen schämen.
(X/497)
Haben Sie einen Tip für einen guten Anfang?
Der erste Satz soll eine Sentenz enthalten.
(Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila – vom 14. November 1936 aus
Versailles)
Und wie findet der Reporter seine Stoffe?
Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Versuche, die er
anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die
er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar
nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von
der Lüge unermeßlich überschwemmt ist, wenn er in einer Welt, die
sich vergessen will und darum bloß auf Unwahrheit ausgeht, die
Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die
einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts
ist phantasievoller als die Sachlichkeit.
Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in
der man lebt!
(Der rasende Reporter. Vorwort der Erstausgabe 1924)
Schön und gut. Aber gibt es nicht besondere Brennpunkte, spezielle
Kontakte, die für den Reporter bei seinen Recherchen wichtig sind?
Ein Reporter muß mit allen Kreisen der Gesellschaft Fühlung haben,
von der allerhöchsten bis zu den allerniedrigsten. Trotzdem will ich
nicht behaupten, daß ich mit manchen merkwürdigen Gestalten der
Boheme und der Verbrecherwelt in der Zeit meiner Jugend nur aus
journalistischem Ehrgeiz befreundet war. Viele liebte ich als
prachtvolle Menschen, obwohl mancher nur zu mir kam oder mich
anrief, um eine Protektion bei der Polizei zu erbitten, um bei mir
zu essen oder zu schlafen – zur geringen Freude meiner Mutter.
(X/215)
Ihnen wurde gelegentlich »empfohlen«, Daten und Namen einfach zu
ignorieren und ihr Werk nicht als Reportage, sondern als Novelle zu
deklarieren, so dass man Sie dann literarisch beurteilen würde, als
Mann von Phantasie?
Bedarf die Gestaltung der Wahrheit keine Phantasie? Es ist wahr, die
Phantasie darf sich hier nicht entfalten, wie sie lustig ist, nur
der schmale Steg zwischen Tatsache und Tatsache ist zum Tanz
freigegeben.
(VII/292)
Sie haben den Begriff der »logischen Phantasie« eingeführt, weil ein
guter Reporter allein mit den ermittelten Tatsachen nicht auskomme?
Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, er bedarf
aber auch eines Fernrohres: der »logischen Phantasie«. Denn niemals
bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes, aus
den aufgeschnappten Äußerungen der Beteiligten und Zeugen und aus
den ihm dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage.
Er muß die Problematik des Vorfalles, die Übergänge zu den
Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten,
daß die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten
Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal ist
nun, daß diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit
der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses
zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer
Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der
Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich der Reporter von jedem
anderen seiner Gattung, hier zeigt sich der Grad seiner Begabung.
(VIII/206)
»Logische Phantasie« verlangt eine bestimmte Begabung, doch was
nützt sie, wenn es in manchen Redaktionen oder bei gewissen Themen
festgefügte Forderungen gibt und der »freien Meinung« Grenzen
gesetzt sind?
Heute werden Begabungen unter der selbstverständlichen Bedingung
gekauft, daß sie jene Meinungen zu vertreten haben, auf welche sich
der Herausgeber der Zeitung, ihre einstigen und gegenwärtigen
Redakteure in allen Fragen festgelegt haben. Aus diesem
Schienenstrang kann niemand heraus. Also ist schon dieser
Menschenkauf unsittlich.
(VIII/216)
Und da gibt es keinen Ausweg?
Die Gegner des gegenwärtigen Pressezustandes wenden sich immer bloß
gegen die Zeitung als Werkzeug der Kapitalvermehrung. Das ist sie,
und da die heutige Gesellschaftsform eine amorphe Masse aus
Utilitarismus, Sensationslüsternheit, Interessiertheit,
Kulissenkriecherei und Geilheit ist, so können der Journalist und
seine Zeitung keine erfreulichere Erscheinung sein, als es sonst
jemand in der Gesellschaft ist. Aber sie sind Symptome, und
Organismen werden nicht gerettet, indem man Symptome beseitigt. Mit
der Kapitalisierung der Presse muß sich jeder abfinden, der sich mit
der Kapitalisierung der Zeit abgefunden hat. Aber auch im Rahmen des
Kapitalismus ist die Reform der Presse möglich.
(VIII/216)
Was hat Sie an der Arbeit des von Ihnen 1923 heraus gegebenen Buches
»Klassischer Journalismus« fasziniert, in dem 100 Meisterwerke der
Zeitung aus rund 2000 Jahren versammelt sind?
Die Geschichte gibt Auskunft... Sie ist es, die zu jedem Plädoyer
ihren Urteilsspruch gefügt hat. Und das sollte eine Anthologie des
klassischen Journalismus zu einem Lehrbuch der Nation machen. Zu
lernen ist, daß der Geistigkeit nur durch Geistigkeit zu begegnen
ist, durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine Lüge zu
lernen ist, daß nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht,
sondern die besser verfochtene Sache. Und daß es nichts hilft, wenn
man zu Lande unbesiegt ist und zu Wasser unbesiegt ist, sondern daß
man den Krieg der Menschheit nur verlieren kann, wenn man im Geiste
besiegt wird.
(Klassischer Journalismus – Die Meisterwerke der Zeitung / Vorwort)
Durch ihr gesamtes Werk zieht sich wie ein roter Faden die
Forderung, für die Wahrheit zu streiten...
Ich glaube, einmal werden die Menschen über die Welt nichts als die
Wahrheit lesen wollen.
(X/438)
Veröffentlicht in: Menschen Machen Medien – MMM, Heft 03/2008 |
|